Wenn die Pensionierung zu einer Belastung wird

Die grösste Herausforderung nach der Pensionierung ist, nicht mehr herausgefordert zu werden. Dr. phil. Ernst Reinhardt

Die meisten Frauen und Männer freuen sich auf die bevorstehende Pensionierung. Sie wünschen sich endlich mehr Zeit und mehr Musse zu haben. Schliesslich haben sie Jahrzehnte gearbeitet, Kinder erzogen, Eltern gepflegt usw.
All dies unter einen Hut zu bringen war nicht immer einfach, manchmal zeit- und kräfteraubend.
Und nun: Wird alles besser, wird alles gut? Leider nicht für alle. Es gibt sie, die zufriedenen Pensionierten. Als glückliche Grosseltern, als Weltenbummler, als Gasthörer an Universitäten, als ehrenamtlich Tätige in den verschiedensten Organisationen.
Andere fallen in ein tiefes Loch, in eine äussere und innere Leere. So wie Frau G. Sie selber ist noch Teilzeit tätig. Ihr Mann ist aber seit gut einem Jahr pensioniert. Er habe sich so darauf gefreut, tausend Ideen habe er gehabt, wie es nun anders wird für ihn und für sie als Paar. Die ersten Wochen seien auch sehr schön gewesen, sie habe ihren Mann in den über 30 Jahren, in denen sie verheiratet sind, nie so gelöst erlebt. Er, der vorher vor allem für und durch die Arbeit gelebt hat, stürzt sich nun buchstäblich ins kalte Wasser, geht jeden Tag in die Aare schwimmen und zwar bei jedem Wetter. Diese Hochphase endet, als Herr G. sich einem kleinen chirurgischen Eingriff zu unterziehen hat und darum über einige Zeit ohne die gewohnten Strukturen leben muss. Er wird zunehmend passiv, vermisst seine Zeit als Kadermitarbeiter in einer lebhaften Firma. Herr G. trauert. Nur zeigt er diese Trauer nicht direkt, sondern er wird (so sagt es seine Frau) grantig, misstrauisch, nörgelt an seiner Partnerin herum. Und, für Frau G. am schlimmsten, ihr Mann, der sich bis anhin kaum für Kochen, Putzen, Einkaufen interessierte, weiss nun plötzlich alles besser.

Belastungen durch die Pensionierung für die Partnerin, den Partner

Frau G. gerät nun ihrerseits in einer Sinnkrise. Sie erträgt zeitweise diesen Mann nicht mehr, sie sehnt sich nach der Vergangenheit zurück, als beide ihre klar umrissenen Aufgaben hatten, sie als Hausfrau und Mutter, er als «der Ernährer». Dieses Arrangement funktionierte über all die Jahre gut. Frau G. ging immer auch einer Teilzeitarbeit nach und war so zufrieden. Herr G. sei ein Vater der älteren Generation gewesen, sagt seine Frau. Während der Woche kaum präsent, an den Wochenenden habe er aber viel mit den zwei Kindern unternommen.

Paarzeiten – Sie kommen häufig zu kurz

Was offensichtlich zu kurz kam in dieser langen Ehe waren die Paarzeiten. Die bisher gültigen Rollenmodelle sind weggefallen und beide haben sie noch keine Alternative. Sie trauern der Vergangenheit nach und machen sich so die Gegenwart (die sie sich doch so schön vorstellten) gegenseitig schwer.
In dieser Situation meldet sich Frau G. zuerst für eine Einzelberatung an. Sie wolle zuerst für sich etwas mehr Klarheit. Ihr Mann ist informiert und einverstanden. Er könne sich auch vorstellen später in einer Eheberatung/Paarberatung einzusteigen. Und dies geschieht dann auch bereits nach einigen Wochen. Herr und Frau G. sind nach wie vor in einer Paarberatung. Beide mussten lernen, offen miteinander zu kommunizieren. Für beide war es schmerzlich zu erkennen, dass sie zwar Lebenspartner sind, aber schon lange keine Liebespartner mehr. Konfliktbeladene Themen aus der Vergangenheit finden endlich den Weg ans Licht und können offen besprochen werden. Dies, so sagen es beide, ist eine grosse Entlastung aber auch ein schmerzlicher Prozess den beide in der Paartherapie angehen. In dieser Zeit stirbt der Vater von Herr G. hochbetagt. Dies löst beim Sohn uralte Gefühle aus seiner Kinder- und Jungendzeit aus die er (aus eigenem Antrieb) in einem separaten Coaching bearbeitet. Seit knapp einem Jahr kommt das Paar nun in Paartherapie und Herr G. in das Coaching. Beide geraten hin und wieder in alte Muster und Machtkämpfe, beide bestätigen aber, dass es ihnen beiden deutlich besser geht, dass sie entspannter miteinander umgehen, dass mehr Nähe zwischen ihnen entstanden ist und auch mehr Humor.

Pensionierungsschock:
Die Pensionierung kann bei Betroffenen und Mitbetroffenen (Partner/Partnerin) eine Sinnkrise auslösen.
Die innere Umstellung von der jahrzehntelangen Erwerbsarbeit aufs «Nichtstun» braucht Zeit. Wenn die Pensionierung einen sogenannten Pensionierungsschock auslöst, dann ist es sinnvoll sich professionelle Hilfe zu holen.
Als Pensionierungsschock bezeichnet man die emotionale und psychische Belastung, die durch den Beginn des Ruhestands auftritt.